Der Schwarzgurt

Jeder, der mit irgendeiner Kampfkunst anfängt, möchte früher oder später seinen „schwarzen Gürtel“ haben. Der schwarze Gürtel scheint eine Art magische Anziehung zu besitzen, er scheint der „Meisterbrief“ in den Kampfkünsten zu sein, was er ja in gewisser Weise auch ist.

Doch wenn wir das Graduierungssystem etwas genauer betrachten, so stellen wir fest, dass die Gürtel eingeführt wurden, um den Fortschritt im Karate auch nach außen hin sichtbar zu machen. Hier in der westlichen Welt gibt es weit mehr Gürtelfarben als beispielsweise in Japan. Zwar gibt es dort die gleiche Anzahl von Kyu-Graden, jedoch sind die Gürtelfarben dort auf weiß, grün, braun und schwarz beschränkt.

Das Leben der japanischen Schüler besteht aus einer Vielzahl von Prüfungen.
Gürtelprüfungen im Karate sind hier nur ein Teil davon. In Japan gilt es als unanständig, sich ständig in den Vordergrund zu stellen. Möglicherweise ist dies einer der Gründe, warum es dort weniger Farben gibt, als hierzulande. Dennoch haben alle erreichten Graduierungen nur einen Sinn: Sie dokumentieren den erfolgreichen Abschluss einer bestimmten Lernphase, eines bestimmten Trainingsabschnitts. So sind sie alle nur ein Meilenstein auf dem langen Weg.

Es erscheint mir persönlich ein wenig übertrieben, wie der „schwarze Gürtel“ hochgelobt wird. Was ist das schon? Als ich einmal anfing Karate zu üben, tat ich dies, weil ich lernen wollte mich selbst zu verteidigen. Dieses Ziel musste ich jedoch bald weiter nach hinten stellen, da ich erkannte, dass hierzu sehr langes Training erforderlich sein würde. Nicht als Gelb- oder Orangegurt und auch nicht später als Grün-, Blau- oder Braungurt fühlte ich mich sicher, dass ich von mir behaupten konnte, mich jetzt immer und in jeder Situation verteidigen zu können. Ich erkannte vielmehr, dass die beste Selbstverteidigung immer noch eine ausgezeichnete 100-Meter-Zeit ist.

Durch das Training werden uns immer wieder unsere Schwachpunkte aufgezeigt, an denen wir arbeiten müssen, um unsere Techniken weiter zu vervollkommnen. Shotokan kann wohl zu recht als der Karate-Stil bezeichnet werden, der am meisten auf das Detail achtet. Doch nur, wenn auch die letzte Kleinigkeit stimmt, ist auch die höchste Effektivität und Perfektion gewährleistet. Das liebe ich am Shotokan Karate. Immer wieder gibt es Dinge, die man neu entdecken kann, die man auf’s neue lernen oder verbessern muss.

Prüfungen helfen uns hier. Doch dazu müssen die Prüfungsanforderungen auch dem entsprechen, was der Schüler auf der jeweiligen Stufe braucht. Wir brauchen keinen Universitätsabschluss, bevor wir das Gymnasium verlassen haben. Wir sind nicht automatisch erwachsen, nur weil wir das 18. Lebensjahr vollendet haben. Wir haben nicht das Recht uns über andere zu erheben, nur weil wir glauben, dass wir es besser wüssten als der andere.
Das Gymnasium muss optimal auf das Studium an der Universität vorbereiten. Unsere Lebenserfahrung nimmt mit jedem Tag zu und wir lernen ständig neues und müssen bereit sein, anderen geduldig unseren Standpunkt zu erklären. Wenn wir andere von unserem Standpunkt überzeugen können, dann waren wohl unsere Argumente gut und richtig (oder wir sind ausgezeichnete Schaumschläger).

Was bedeutet dies nun auf das Karate bezogen? Was ich damit sagen will ist, dass jede einzelne Karate-Prüfung auf die nächste Prüfung vorbereiten soll. Die Anforderungen müssen von Stufe zu Stufe erkennbar steigen aber sie dürfen wiederum auch nicht unerreichbar hoch sein. Ebensowenig wie irgend jemand mit 18 erwachsen geworden ist und jetzt die Lebensweisheit eines 30 oder 40jährigen besitzt, kann man die technischen Karate-Graduierungen und hierzu zählt insbesondere auch der 1. Dan vom Erreichen eines bestimmten Alters abhängig machen. Der 1. Dan ist ein Experte der Grundtechniken, d.h. er ist in der Lage, die Grundtechniken jetzt korrekt – unter Beachtung von Timing, Distanz und Kontrolle – auszuführen. Das ist aber auch schon alles, was aber wiederum nicht heißen soll, dass man „nur“ ein Shodan ist. Den Shodan zu erreichen, ist eine Leistung, die nicht vielen gelingt. Doch Shodan zu sein, hat nichts mit „geistiger Reife“ zu tun, wie es besonders hier in Deutschland immer wieder proklamiert wird. Um ein Meister seines Handwerks zu werden, muss man sich in seinem Handwerk auskennen und es gut lernen. Der Meister ist in der Lage, das Handwerk auch an andere weiterzugeben. In diesem Sinne ist der Shodan wohl am ehesten mit dem Gesellen im Handwerk zu vergleichen. Er hat sein Handwerk gelernt und geht nun auf Wanderschaft, um die letzten Tricks und Kniffe zu lernen, Erfahrung zu sammeln und dann seine Meisterprüfung abzulegen.

Warum sollten wir daher jemanden verwehren, der sein Handwerk gelernt hat, die „Gesellenprüfung“ abzulegen? Nur weil er noch nicht 18 ist? Wieviel mehr Lebenserfahrung hat denn ein 18jähriger tatsächlich gegenüber einem 16 oder 15jährigen? Wieviel mehr Einsichtsfähigkeit besitzt er aufgrund seiner Lebenserfahrung? Ich glaube, dass die Unterschiede hier wohl eher gering sind. Ich habe in Japan selbst Kinder von 12, 13 Jahren mit einem Schwarzgurt gesehen. Ihre Techniken waren makellos. Wie hätte ich diesen Kindern erklären sollen, dass sie aufgrund Ihres Alters bis zum Schwarzgurt noch 5 oder 6 Jahre zu warten hätten?

Es wird hierzulande immer wieder argumentiert, dass der Schwarzgurt ein Meistergrad sei und dazu Lebenserfahrung gehöre, man Vorbild sein müsse. All dies ist richtig, aber es berechtigt uns nicht, anderen den Fortschritt, die Prüfung zu verwehren. Jeder hat ein Recht auf eine Prüfung und wer Talent hat, muss auch entsprechend gefördert werden – er hat sich durch sein beständiges Mühen die Prüfungsteilnahme verdient.

Es versteht sich von selbst, dass höher graduierte Schüler ihren jüngeren Schülern Vorbild sein müssen. Aus dem japanischen Gesellschaftsverständnis heraus ist der jüngere Schüler hier ein zwiespaltiger Begriff ebenso wie der Begriff „Sensei“. Ein Sensei ist jemand, der jemandem anderen etwas voraus hat. Sensei ist die gebräuchliche Bezeichnung für „Lehrer“. Sie drückt aber in den Kampfkünsten zudem auch Respekt, Ehrerbietung und Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer aus. Höher graduierte Schüler tragen durch ihr beispielhaftes Verhalten zu einem guten Klima im Dojo bei. Sie helfen den jüngeren Schülern. Zugleich dürfen sie zu Recht von den jüngeren Schülern erwarten, dass diese ihnen Respekt und Achtung entgegenbringen. Doch trotzdem spielt auch das Alter eine entscheidende Rolle. Niemals wird sich in Japan ein Erwachsener vor einem Kind als „älteren Schüler“ verbeugen. Zuerst kommt das Alter und damit einher die Lebenserfahrung und dann der Fortschritt in der Kunst. Die gesellschaftliche Stellung spielt in Japan außerdem noch eine nicht zu unterschätzende Rolle, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.

Betrachten wir dies alles zusammen, so werden wir feststellen, dass die Prüfung zum Shodan nichts als ein weiterer Schritt auf dem langen Weg ist. Sicherlich ein entscheidender, denn ab dem Shodan verändert sich die Gürtelfarbe nicht mehr – sie bleibt schwarz, doch man wird damit nicht quasi über Nacht zu einem anderen Menschen.

Ich für meinen Teil sehe keinen vernünftigen Grund, die Prüfung zum Shodan an das Erreichen eines bestimmten Alters zu knüpfen. Wer das Handwerkszeug hat, der soll auch vorankommen. Es ist wohl eher ein falsches Verständnis der Bedeutung des Shodan, des 1. Schwarzgurts (von 9 zu Lebzeiten erreichbaren Graden), die uns daran festhalten lassen, den Shodan an einer Altersgrenze festzumachen. Vielleicht fürchten wir auch einfach nur, die Bedeutung des Schwarzgurtes abzuwerten und damit die eigene Position zu untergraben… Wie dem auch sei: Ein Lehrer beweist sich durch sein Wissen und seine Fähigkeiten, nicht durch eine Gürtelfarbe.

Letztlich ist der Schwarzgurt etwas Besonderes, weil ihn nicht viele erreichen, weil ihnen einfach die Geduld fehlt, so lange durchzuhalten. Die ihn erreichen werden erkennen, dass der Shodan auch nur ein weiterer Meilenstein auf dem Weg ist. Wir werden durch die Prüfung nicht besser oder schlechter, aber durch die bestandene Prüfung können wir den erfolgreichen Abschluss dieses Abschnitts dokumentieren und uns zugleich an die Bewältigung des nächsten Zieles machen. Wenn ein Abschnitt erfolgreich abgeschlossen werden kann, sollten nicht irgendwelche starren Regeln den Abschluss verhindern. Es ist ein besonderer Meilenstein, weil sich die Gürtelfarbe ab jetzt nicht mehr ändert, aber letztlich macht uns der schwarze Gürtel noch nicht automatisch zum „Meister“ oder „Sensei“. Wir müssen ständig an uns arbeiten und uns die Graduierung täglich neu verdienen.

Ein Sensei ist letztlich jemand, der uns positiv beeinflusst.

Das Graduierungssystem ist wie eine Pyramide aufgebaut. Die Kyu-Grade werden rückwärts gezählt, bis wir schließlich zum ersten Dan (Shodan) gelangen. Damit ist die Grundlage, die Basis für die Kampfkunst erreicht. Man ist jetzt den Kinderschuhen entwachsen. Vom ersten Dan an werden die Graduierungen aufwärts gezählt. Von nun an kann man wirklich Fortschritte in der Kampfkunst machen, denn die Grundlagen sind verstanden und man kann tiefer in die Kunst eindringen.

1 Kommentar zu „Der Schwarzgurt“

  • P.L.:

    Hallo!
    Ich bin auf diese Website gestoßen als ich nach Aufwärmübungen im Internet gesucht habe. So sah ich mir die verschiedenen Kategorien an. Ich bin 15 Jahre und sehr interessiert an solchen Beiträgen wie auf dieser Seite. Am besten gefallen mir die Zitate von Nakayama Sensei. Ich bin sehr beeindruckt von seiner Weisheit und dankbar dafür, dass Sie diese veröffentlicht haben.
    Liebe Grüße: P.L.

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