Grundsätze für den Schüler

Das Wort „Bu“ in Budo (Kampfkunst) wird mit dem chinesischen Schriftzeichen für „Aufhören“ geschrieben. Dieses Schriftzeichen beinhaltet ein Zeichen, das zwei gekreuzte Hellebarden darstellt, das Beenden jeglicher Gewalt symbolisierend. Da Karate ein Teil des Budo ist, sollte man sich der Bedeutung des Wortes „Bu“ stets bewusst sein und die Fäuste nicht achtlos benutzen.

Jugend ist Gerechtigkeit und Kraft. Kraft wird durch Bu (die Kampfkünste) entwickelt und äußert sich durch gute, mitunter aber auch schlechte Taten. Wenn man dem wahren Karate-Do folgt, wird es folglich den Charakter entwickeln, und man wird für die Gerechtigkeit eintreten, doch wenn man es für schlechte Absichten gebraucht, wird es die Gesellschaft verderben und der Menschlichkeit zuwiderlaufen.

Gewalt darf nur dort als allerletzter Ausweg Anwendung finden, wo Menschlichkeit und Gerechtigkeit sonst nicht zum Tragen kommen können, doch wenn die Faust achtlos ohne jede Überlegung eingesetzt wird, wird der Anwender die Achtung der anderen verlieren und von ihnen für sein ungesittetes Benehmen gemein behandelt werden. In der Blüte ihrer Jahre neigt die draufgängerische Jugend dazu, vorschnell zu sprechen und zu handeln, daher ist Besonnenheit unerlässlich.

Man muss Ansehen erlangen ohne Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die Kampfkünste sollen einen zu diesem Punkt bringen. Sie werden nicht dazu führen, ohne Sinn und Verstand zu handeln und damit anderen nichts als Unannehmlichkeiten zu bereiten. Meister und Heilige mögen einem als Einfaltspinsel erscheinen. Wer anmaßend ist, behauptet vor der Welt, dass er noch Neuling in den Wissenschaften oder den Kampfkünsten sei.

Stehen zu bleiben heißt zurückzugehen; jene, die meinen, dass sie schon alles gelernt haben und diejenigen, die selbstgefällige Angeber werden nachdem sie die Abläufe einiger Kata erlernt und ein bisschen Geschicklichkeit erworben haben, sind nicht noch lange nicht so weit, um als ernsthafte Schüler der Kampfkünste angesehen zu werden.

Man sagt, dass sogar ein Wurm, der nur einen Zoll lang ist, eine Seele von der Länge eines halben Zolles hat; das heißt: in dem Maße wie man sich um die Verbesserung seiner Karate-Fertigkeiten bemüht, muss man mit dem was man sagt, vorsichtiger werden und reiflicher überlegen. Es gibt noch ein anderes Sprichwort: „Je höher der Baum, desto stärker der Wind,“ – aber widersteht denn nicht sogar die Weide dem Sturm? Genauso muss der Karate-Do-Schüler dessen stets eingedenk sein, dass gutes Benehmen und Demut die höchsten Tugenden sind.

Meng Tzu (Mencius) sagte, „Wenn der Himmel einem Mann ein wichtiges Amt übertragen will, wird er ihm zuvor sein Herz verbittern; er wird ihn zunächst jede Sehne, jeden Knochen im Leib spüren lassen, er wird ihn Hunger leiden lassen, legt ihm Entbehrungen und Armut auf und lässt all seine Unternehmungen scheitern. Auf diese Weise festigt er seinen Willen, stählt sein Wesen und versetzt ihn so in die Lage zu vollbringen, was er ansonsten niemals würde vollbringen können.“

Wenn mir Selbstprüfung offenbart, dass ich selbst ungerecht bin – werde ich dann nicht, ganz gleich wie niederträchtig der Angreifer auch sein mag, von Furcht ergriffen werden? Wenn mir Selbstprüfung offenbart, dass ich gerecht bin, werde ich nicht zögern, selbst gegen eintausend oder zehntausend Männer anzutreten.

Ein Mann von Ehre sollte sanft sein und niemals drohen; er ist zurückhaltend, drängt sich nie in den Vordergrund; stirbt lieber, bevor er sich demütigt; seine Wohnung ist untadelig; seine Nahrung ist nie schwer; selbst den kleinsten Fehler wird er korrigieren, auch wenn keine Anklage erhoben wird. Das ist seine Willensstärke.

Ein Mann von Ehre muss tolerant aber auch energisch sein. Die auf ihm lastenden Verantwortungen sind groß, und der Weg ist lang und beschwerlich. Mache dir Güte zur Lebensaufgabe. Dies ist gewiss eine wichtige Bestimmung. Es ist ein lebenslanges Bestreben, wahrlich eine weite Reise.

Ein gewöhnlicher Mann wird sein Schwert ziehen, wenn man ihn verspottet, er wird kämpfen und dabei sein Leben auf das Spiel setzen, aber man kann ihn dafür keinesfalls als tapferen Mann bezeichnen.

Ein wahrhaft großer Mann ist selbst dann nicht beunruhigt, wenn er unversehens mit einer völlig unerwarteten Situation konfrontiert wird, noch gerät er in Wut, wenn er in Situationen gerät, für die er nicht verantwortlich ist, und dies ist nur deshalb so, weil er ein großes Herz hat und sich selbst hohe Ziele gesetzt hat.

Acht wichtige Leitsätze für Karate:

  • Der Geist ist eins mit Himmel und Erde.
  • Der Lebensrhythmus ist eins mit Sonne und Mond.
  • Das Gesetz schließt Härte und Weichheit ein.
  • Handele in Übereinstimmung mit Zeit und Wechsel.
  • Technik tritt hervor, wenn ein Fehler gefunden wird.
  • Maai (Abstand, Distanz) verlangt ein ständiges Vor- und Zurückgehen, Auseinandergehen und Zusammentreffen.
  • Den Augen entgeht nicht die kleinste Veränderung.
  • Die Ohren hören in alle Richtungen.

Deshalb sage ich: Erkenne deinen Gegner und erkenne dich selbst; und von hundert Kämpfen, die du auszufechten hast, werden hundert siegreich sein.

Wenn du den Gegner nicht erkennst, doch du erkennst dich selbst, so stehen die Chancen zu gewinnen oder zu verlieren gleich.

Erkennst du weder den Gegner noch dich selbst, wirst du bestimmt jeden Kampf verlieren.

Aus hundert Kämpfen hundert Siege davonzutragen ist nicht das höchste Ziel. Den Feind ohne Kampf zu besiegen, ist die höchste Kunst.

Wenn Raubvögel angreifen, kommen sie im Sturzflug herab, ohne ihre Flügel auszubreiten. Wenn Raubtiere sich auf einen Angriff vorbereiten, ducken sie sich ab und legen die Ohren an. Ähnlich ein Weiser, der im Begriff ist zu handeln: er erscheint stets ein wenig zögerlich.

Lin Hung-nien sagt: Ein Stein, in dem kein Wasser ist, ist fest. Ein natürlicher Magnet, der kein Wasser beinhaltet, ist dicht. Wenn ein Körper innen fest und außen dick ist, wie kann er jemals durchdrungen werden? Wenn ein Gegenstand eine Öffnung hat, dann wird er gefüllt werden. Wenn ein Gegenstand eine Tiefe von einem Zoll hat, dann wird er von einem Zoll Wasser ausgefüllt werden.

Aus: Karate-do Kyohan
von Gichin Funakoshi

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