Die Kraft des Karate
Interessant sind die Auffassungen des Altmeisters und Begründer des modernen Karate. Auch wir sollten uns seine Worte zu Herzen nehmen.
In der Vergangenheit wurden die Geschichten über die Kampfkünste für gewöhnlich derart ausgeschmückt, dass sie schon eher an eine Kurzlegenden erinnerten. Nehmen wir doch beispielsweise nur einmal die folgende Begebenheit, die sich angeblich vor langer, langer Zeit in China zugetragen haben soll.
Anlässlich eines Straßenfestes strömten Scharen von bunt gekleideten Männern und Frauen an bunten Läden und Ständen, die mit Lebensmitteln, Kleidern, Spielzeug, billigen Schmuckgegenständen und Feuerwerk gefüllt waren, vorüber als plötzlich ein Tumult entstand.
„Ein Kampf! Das ist ein Kampf!“
„Nein, das ist wieder so ein Boxkampf zwischen diesen Kenpo-Leuten.“
Die Menge schob und drückte gegeneinander. Die jungen Männer rannten neugierig in Richtung der Rufe, um den Kampf zu sehen. Schreiende Frauen und weinende Kinder versuchten verzweifelt, so weit als möglich von dem Gedränge wegzukommen.
In der Mitte des Durcheinanders stand eine große Figur mit einem furchteinflößendem, im Sonnenlicht glänzenden, Stoppelbart und seinem von Wut und Alkohol puterrot gefärbten Gesicht – der berüchtigte Meister Yang war wieder einmal betrunken und damit die Ursache für den Ärger. Schäumend vor Wut stieß und schubste er einen alten weißhaarigen Knoblauch-Verkäufer vor sich her. Um das Leben des alten Mannes bangend, wartete die Menge darauf, dass jemand vortreten würde, um ihn zu retten, aber jedermann kannte Meister Yang’s schlechtes Temperament und alle wussten, dass er für vernünftige Argumente taub war – so gab es also niemanden, der sich nach vorn wagte. Die Leute schwatzen, ein bisschen Mitleid mit dem alten Mann empfindend, aufgeregt, während sie die Szene weiter beobachteten, was wohl als nächstes geschehen würde. Der alte Mann hingegen schien völlig sorglos zu sein.
Leicht wankend und hustend, so als leide er unter Asthma, grinste er breit und sagte: „Nun, wenn ihr mich hier weiter herumstoßt, werdet ihr überhaupt nichts erreichen. Wenn ihr einen Kampf wollt, dann bitte. Ihr sprecht sicherlich mit großen Worten. Aber wenn Worte alles sind, was eine Rolle spielt, dann kann ja jeder ein Experte sein. Gut denn – können wir anfangen?“
Der alte Mann hustete und streckte sich – es schien, als wolle er sich allen Ernstes mit seinem gigantischen Gegner einlassen. Die Gaffer waren sprachlos.
„Der alte Junge muss verrückt sein! Weiß er denn nicht, dass er sich mit Meister Yang einlässt?“
„Das sieht aber nicht so aus, oder? Denn sonst hätte er das doch nicht gesagt.“
„Der alte Mann muss fremd hier sein. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.“
Trotz Yang’s schlechtem Ruf, war er doch als guter Kenpo-Experte und Meister des Speers und des Stocks bekannt. Er hatte über eintausend Schüler und war der Held unglaublicher Geschichten über seine Stärke. Einige erzählten, dass sie ihn gesehen hätten, wie er ein vorbeirennendes Pferd zu Boden schlug, indem er ihm mit seiner Faust auf die Nase geschlagen hatte. Andere behaupteten, dass er in der Lage sei, ein riesiges einhundertzwanzig Kilogramm schweres Schwert zu schwingen und mit ihm zu schlagen so als ob es nichts wäre und einen Stapel von zehn Dachziegeln mit seiner bloßen Hand zu zerschlagen. Seine Überheblichkeit und Liebe zum Trinken hatten ihm zwar einen schlechten Ruf eingebracht, aber wegen seiner großen Kräfte und seinen kämpferischen Fähigkeiten wurde er in der ganzen Stadt gefürchtet und respektiert.
Die Menge war ob der Antwort des alten Knoblauch-Verkäufers völlig erstaunt. Yang selbst war überrascht, aber es dauerte nicht lang, bis seine Wut wieder die Oberhand gewann.
„Du verrückter alter Narr! Ich wollte eigentlich erst dein Leben schonen, aber jetzt habe ich meine Meinung geändert. Macht dich bereit. Ich, Meister Yang, werde über deinem toten Leib Gebete sprechen!“
Mit einem gewaltigen Kiai stieß er seine Faust zum Kopf des alten Mannes. Die Kraft und die Wucht seines Angriffs waren der eines riesigen Deva-Königs vergleichbar, der in seinem Wahn alles niederreißt. Die Menge hielt den Atem an, schon sehend, wie der Schlag den Schädel des alten Mannes zermalmen würde.
Der alte Mann bewegte sich ein wenig nach links und stand ruhig da, leicht zitternd wie zuvor.
Yang, durch seinen eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, fiel der Länge nach auf sein Gesicht. Er sprang sofort wieder auf. Mit einem verzweifelten, fürchterlichem Blick stieß er seine Faust nun auf den Bauch des alten Mannes, wo sie mit einem dumpfen Geräusch abprallte. Einige der Zuschauer bedeckten ihre Augen, da sie den Anblick des alten, am Boden liegenden und Blut spuckenden Mannes nicht ertragen konnten.
Aber das Aussehen des Knoblauch-Verkäufers war völlig unbekümmert, als er die volle Wucht des Schlages hinnahm, ja die Gesichtsfarbe veränderte sich nicht ein bisschen. Er stand da, immer noch zitternd, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. Yang stellte bestürzt fest, dass seine Faust noch immer gegen den Bauch des alten Mannes gepresst war. Unfähig, die Faust entweder tiefer zu stoßen oder zurückzuziehen, sah er wie ein Insekt aus, das an Fliegenpapier klebte, mit den Flügeln schlagend, darum kämpfend, sich selbst zu befreien. Die Menge starrte verwundert drein. So etwas hatten sie noch nie gesehen.
Bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass Yang’s kürbisgroße Faust in den Falten des Bauches des alten Mannes gefangen war. Meister Yang, von dessen Stärke man sagte, dass sie einzigartig sei, stand dort – schweißgebadet. Seine Faust gefangen, sein Gesicht vor Wut rotglühend. Er kämpfte und wand sich – aber vergebens.
Zu guter letzt überkam den für seine Trunkenheit bekannten Meister Yang die Scham. Auf seine Knie fallend und sich immer wieder verbeugend sagte er „Meister! Ich war nicht fähig, einen wahren Meister zu erkennen. Als ich einen sah, habe ich wie ein verrückter Narr gehandelt. Von nun an werde ich anderen gegenüber Rücksicht und Respekt walten lassen. Ich bitte Euch demütig, mir zu verzeihen.“
Den reumütigen Mann sehr genau betrachtend sagte der alte Mann „Wenn Ihr wirklich verstanden habt, dann ist es gut. Ihr habt den Ruf ein unerträglicher Aufschneider zu sein. Vergesst niemals, dass die Welt ein sehr großer Ort ist. Behaltet Euch selbst sehr genau im Auge, wägt sorgfältig ab, was Ihr sagt und was Ihr tut.“
Der alte Mann entspannte seine Bauchmuskeln und Meister Yang fiel schwer zu Boden. Der alte Mann wandte sich um und nahm seinen Sack mit Knoblauch auf. Im Gehen hustend verließ er den Kreis der Zuschauer ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Geschichten wie diese ist sicherlich unterhaltend, aber es kommen Probleme auf, wenn Leute, die in der Lage sein sollten solche Begebenheiten im rechten Licht zu sehen, statt dessen annehmen, dass diese sich tatsächlich einmal so zugetragen haben. In extremen Fällen gehen sie sogar so weit, die Geschichte in einer Art und Weise wiederzugeben, die den Anschein erweckt, sie seien selbst Zeugen der Ereignisse gewesen.
Beim Beschreiben der gewaltigen Kraft des Karate gibt es Leute, die Dinge wie diese erzählen:
Es gibt da eine geheime Technik im Karate, die Nukite (Speer-Hand) genannt wird. Mit deinen Fingerspitzen kannst du die Seite eines Gegners durchdringen und seine Rippen ergreifen und herausreißen. Das Training für diese Technik ist sehr schwierig. Du nimmst ein Vierzig- bis Fünfzig-Liter-Fass. Dieses füllst du mit kleinen Bohnen und die Finger zusammendrückend beginnst du mit deinen Fingerspitzen in die Bohnen zu schlagen. Dies machst du tausend Mal pro Tag. Die Haut wird aufplatzen und die Finger werden bluten. Allmählich werden deine Fingerspitzen widerstandsfähiger und nehmen eine ungewöhnliche Erscheinung an. So wie du mit der Schlag-Übung fortfährst, wird die Erfahrung des Schmerzes verschwinden.
Wenn diese Stufe erreicht ist, wechselst du von getrockneten Bohnen zu Sand. Der Sand wird schwieriger sein als die Bohnen, aber nach Monaten der Übung, wirst du in der Lage sein, mit einem einzigen Schlag den Boden des Fasses zu erreichen. Von Sand gehst du dann über zu Kies, dann zu Kieselsteinen und schließlich zu Bleikügelchen.
Als Ergebnis des Trainings wirst du in der Lage sein, Holzbretter mit deinen Fingerspitzen zu durchdringen, in Felsen zu schlagen oder sogar die Flanke eines Pferdes mit deinen bloßen Händen zu durchdringen.
Wer nichts über Karate weiß, könnte diese Pseudo-Anweisung durchaus für bare Münze nehmen und zu der Überzeugung gelangen, dass Karate etwas Ehrfurcht gebietendes, schreckliches und furchteinflößendes ist. Dass darin zuletzt auch ein Fünkchen Wahrheit steckt wird auch durch Fragen wie diese bestätigt: „Ich habe gehört, dass Ihr Karate könnt. Verzeiht mir bitte die Frage, aber könnte Ihr mit Euren bloßen Händen Felsen spalten oder mit Euren Fingerspitzen Löcher in Menschen machen?“
Einer solchen befremdlichen Frage gegenübergestellt, sollte man wissen, dass die sich so erkundigende Person nur ein Amateur ist. Ein einfaches Lächeln und eine direkte Antwort „Nein, ich kann keine derartigen Tricks ausführen.“ sollten die gewöhnliche Antwort sein.
Aber es gibt auch solche lästigen Lehrer, die auf Nachfragen mit solch unverfrorenen Antworten wie „Ja, ich kann nicht sagen, daß ich das nicht auch schon einmal gemacht habe…“ reagieren. Doch das sind nur Prahler – sie sind für gewöhnlich sehr gewandte Redner, die es fertig bringen, ihre Geschichten den Zuhörern glauben zu machen. Natürlich mag es sein, daß diese Leute einfach nur glauben, durch ihre Übertreibungen dem Karate einen Gefallen zu tun, indem sie es attraktiver machen, als es ist, indem sie Karate schmackhafter machen. In Wahrheit vertuschen sie aber die wahre Natur des Karate mit sehr nachteiligen Folgen. Es dies nicht genauso, als ob man jemanden durch Liebenswürdigkeit umbringt?
Außer der Geschichte von Meister Yang haben die Erzähler mystische, geheime Techniken erfunden, deren letztendliche Zahl lediglich durch ihre eigene Fantasie beschränkt wird. Es soll derartige Experten unter den alten Meistern gegeben haben, aber unter den heutigen Meistern kenne ich nicht einen, der derartige Kunstsücke vollbringen könnte.
Dann gibt es wiederum Lehrer, die andere mit Erklärungen der Art „Im Karate ist ein kräftiger Griff sehr wichtig. Um deinen Griff zu üben, solltest du zwei Krüge nehmen, deren Öffnung so groß ist, daß du sie gerade noch mit deinen Fingerspitzen umfassen kannst. Fülle sie mir Sand, halte einen Krug in jeder Hand und schwinge sie vor und zurück. Ein Mann, der seinen Griff durch Übung derart gestärkt hat, ist in der Lage aus den Arm und Bein seines Gegners das Fleisch herausreißen.“ irreführen.
Obwohl in den vorgenannten Erklärungen ein wenig Wahrheit steckt, ist der Teil, daß man jemandes Fleisch herausreißen könne einfach lächerlich, denn das, wovon wie sprechen – menschliches Fleisch – ist nicht einfach nur die Muskeln massieren. Sie können nicht einfach reißen.
Trotzdem kam eines Tages ein Lehrer zu mir in mein Dojo und fragte mich, ob ich wolle, daß er mir seine „geheime Technik“ beibringe. Ich dachte bei mir, einige Leute in der Welt müssen eine Menge Mut haben und bat ihn sofort, die Technik an mir zu demonstrieren. Das Ergebnis war alles andere als aufregend. Es gelang ihm nur, mich fest zu keifen. Weiter: vom Herunterreißen meiner Haut gar nicht zu reden, hinterließ sein Keifen noch nicht einmal eine Spur. Die ganze Angelegenheit war absurd.
Das heißt natürlich nicht, daß ein fester Griff nicht von Vorteil sei. Ich habe von Leuten gehört, deren Kraft ungewöhnlich groß war. Ein Mann in der Lage war, sein Haus außen einmal komplett zu umrunden, indem er sich zupackte und sich von Dachrinne zu Dachrinne schwang. (Es sollte ins Gedächtnis gerufen werden, daß im Gegensatz zu den Häusern auf dem Festland, die okinawanischen Häuser dickere Dachrinnen haben, die dies erlaubten.) Ferner ist es Tatsache, daß mein hochgeachteter Lerer Meister Itosu, der weithin als moderner Meister des Karate-Do angesehen wurde, eine dicke Bambus-Stange mit seinen Händen zerquetschen konnte. Ich glaube dennoch, daß Itosu’s Griff mehr ein natürliches Talent als eine durch Training erlangte Fertigkeit war.
Mit fortgeschrittenem Training kann der menschliche Körper in einen hohen Zustand von Fitness und Gewandtheit. Aber es sollte nie vergessen werden, daß es auch natürliche Grenzen gibt. Es ist richtig, daß jemand, der Karate übt, einige Kunststückchen vollführen kann, zu denen eine durchschnittliche Person nicht in der Lage ist, wie zum Beispiel das Zerbrechen dicker Bretter oder das Zerschmettern von zwölf oder vierzehn übereinandergestapelten Dachziegeln. Aber diese Dinge kann jeder nach kurzer Übung erreichen. Bretter und Ziegel zerbrechen sind wirklich nichts anderes als Tests. Als solche sind sie für das Karate nicht erforderlich und erst recht keine geheimen Techniken.
Im Gegenteil, was das Karate-Do anbelangt sind das völlig fremde Elemente. Dennoch wird von Laien häufig die seltsame Frage gestellt „Wieviele Bretter muß man durchschlagen können, um einen bestimmten Grad zu erreichen?“ Es scheint, sie verwechseln das Graduierungssystem im Karate mit einer Leiter. (Der Karate-Grad Ichidan oder Shodan, „Erster Grad“, könnte ebenso „Erster Stufe“ einer Leiter.) Natürlich gibt es hier keinen Zusammenhang.
Karate-Do ist eine edle Kunst und der Leser darf versichert sein, daß jene, die auf das Zerbrechen von Brettern oder das Zerschmettern von Ziegeln stolz sind, oder sich damit prahlen, außergewöhnliche Kunststückchen wie das Herrausreißen von Fleisch oder dem Heraußziehen von Rippen vollbringen zu können, in Wahrheit überhaupt nichts über Karate wissen. Sie spielen in Blättern und Zweigen eines großen Baumes, ohne die geringste Ahnung vom Stamm.
Aus: Karate-do Nyumon von Funakoshi Gichin
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