Traditionen

Die Kampfkünste blicken auf eine lange Geschichte zurück. Niemand kann heute mehr genau sagen, wie und wo die Kampfkünste entstanden sind. Die Ursprünge verlieren sich im Grau der Vorzeit, da das Wissen über die Kampfkünste über lange Zeit hinweg geheimgehalten und nur mündlich vom Meister zum Schüler überliefert wurde. Letztlich ist aber sicher, daß das Wissen um die Geheimnisse des Kampfes so alt ist, wie die Menschheit selbst, denn seit jeher mußten sich den Menschen gegen ihre Umwelt behaupten. So wie die Menschen sich Werkzeuge schufen, entwickelten sie auch immer neue Waffen und damit natürlich auch immer ausgefeilter Techniken, diese Waffen zu handhaben, beziehungsweise abzuwehren.

Aufgrund der langen Geschichte haben diese Kampfkünste auch bis in unsere Zeit hindurch erhaltene Traditionen, die ebenso wie die Techniken selbst, lange vor unserer Zeit entstanden und mit dem Wissen um die Techniken weitergegeben wurden. Wer sich heute für die traditionellen Kampfkünste entscheidet, wird immer wieder mit der Vergangenheit konfrontiert. Dies geschieht zunächst, und für alle Schüler am ehesten spürbar, in der Etikette, den Umgangsformen zwischen den Schülern und Lehrern in und außerhalb des Dojos.

Karate ist eine japanische Kampfkunst. Wir haben da zum einen dieses ewige An- und Abgrüßen beim Training. Dies hat – wie vielleicht die wenigsten wissen werden – durchaus seinen Sinn, denn durch die Verneinung voreinander versprechen die Schüler rücksichtsvoll miteinander zu üben. Nach der Übung verneigen sich die Partner voreinander, um für die gemeinsame Übung zu danken.

Die Verneigung ist ein Zeichen der gegenseitigen Achtung, die Verbeugung hingegen, wie sie vielfach aufgrund falschen Verständnisses der Tradition zu sehen ist, ein Zeichen der Unterwürfigkeit. Dies ist jedoch nicht das Ziel des Training. Der Schüler soll nämlich durch das Training befähigt werden, sich selbst zu erkennen, seinen Körper zu beherrschen, sein eigenes Ego zu entwickeln, also seine eigene Persönlichkeit frei zu entfalten. Dies wird aber durch eine Verbeugung keinesfalls unterstützt, sondern eher verhindert, da der Schüler dadurch eingeengt wird. Die Verneigung ist Ausdruck der Höflichkeit und der gegenseitigen Achtung.

Beobachten wir beispielsweise alte Menschen, so werden wir bemerken, daß einige von ihnen noch in unseren Tagen beim Gruß den Hut vom Kopf nehmen und sich leicht verneigen. Was uns antiquiert und eigentlich völlig weltfremd erscheint, ist vor zwei Generationen auch in unseren Breiten noch gängige Umgangsform gewesen.

Ferner ist da die Verneigung vor dem Betreten und beim Verlassen des Dojos. Die Etikette schreibt dies vor, aber warum? Ich könnte es mir mit der Antwort leicht machen und sagen: Weil es immer so war. Aber diese Antwort ist völlig unbefriedigend. Die Verneigung beim Betreten des Dojos besagt, daß der Karateka die Etikette anerkennt und ab Betreten des Dojos seine Gedanken ausschließlich auf das bevorstehende Training ausrichten will, den Alltag also vor der Tür lassen will, nichts soll ihn von dem Training ablenken, keine alltäglichen Probleme aufregen, nicht der gestrige Film sein Gemüt bewegen. So ist ein Training auf hohem Niveau möglich, da der Karateka seine ganze Energie dem Training widmen kann und durch nichts abgelenkt wird. Leider ist aber immer wieder zu beobachten, daß die Schüler dies noch nicht verstanden haben.

Ein weiterer Punkt ist dieses ewige Meditieren. Immer vor und nach jedem Training gibt der Lehrer das Kommando „Seiza!“ und schon geht die Etikette wieder los: Zuerst das linke, dann das rechte Knie auf den Boden. Auch dies hat durchaus seinen Sinn. Man blicke in das japanische Mittelalter zurück. Die Samurai trugen das Schwert an der üblicherweise linken Hüfte. Wenn sie sich niederließen, so zuerst das linke Knie auf den Boden, der rechte Fuß steht also noch fest auf der Erde. Wenn ihr Gegenüber nun plötzlich angreifen sollte, so konnten sie das Schwert mit Leichtigkeit ziehen und zudem schnell aufspringen. Sie waren dadurch in jeder Phase bereit, einen etwaigen Angriff abzuwehren oder diesem gar zuvorzukommen. Das gleiche ist beim Aufstehen zu beachten, nur das in diesem Falle das rechte Knie zuerst vom Boden gelöst wird (also genau in der umgekehrten Reihenfolge).

Warum eigentlich achtet der Trainer darauf, daß sich die Schüler erst setzen, wenn er sitzt? Die Antwort darauf gibt ein altes chinesisches Sprichwort, wie man sie wohl kaum besser geben könnte: „Wenn die Alten stehen, dürfen die Jungen nicht sitzen. Erst wenn die Alten sitzen, dürfen sich die Jungen auf ihr Geheiß hin hinsetzen.“ Die „Alten“ sind die Trainer. Diese werden wiederum je nach Graduierung unterschiedlich bezeichnet. Mit Sempai, „älterer Schüler“ oder wie die Chiesen sagen „älterer Bruder“ werden Schüler bezeichnet, die sich noch auf dem Weg zur Meisterschaft befinden, aber weiter sind als man selbst. Der Meister wird wiederum mit „Sensei“ angeredet, was allerdings der Übersetzung „Meister“ nicht gerecht wird. Meister heißt auf japanisch Yokozuna. Sensei hingegen bedeutet Lehrer. Die Chinesen reden ihren Meister mit „Sifu“ an, was soviel wie „Vater“ heißt. Dadurch wird das familiäre Verhältnis innerhalb der Trainingsgruppe verstärkt, jedoch wird zugleich der Abstand zwischen Meister und Schüler, der durch die tieferen Kenntnisse in der Kampfkunst bedingt ist, gewahrt. Andererseits weiß der Trainer genau um die Probleme der Schüler bescheid, denn er war ja schließlich auch einmal auf einer niederen Stufe. Diesen, in den Kampfkünsten sehr wichtigen, Aspekt vergessen leider viele Universitätsprofessoren ihren Studenten gegenüber nur allzuschnell. Ein überheblicher Danträger ist noch lange kein Meister, denn Meister sein ist mehr, als nur einen schwarzen Gürtel tragen.

Dann das Kommando „Mokuso!“. Alle sollen die Augen schließen und sich ausschließlich auf die richtige Atmung konzentrieren. Der Sinn, der dahinter steckt, ist folgender: Durch die Atmung soll der Geist auf das bevorstehende Training ausgerichtet und die Kräfte mobilisiert werden. Dies wird durch das Aufeinanderlegen der Zehen (rechter großer Zeh auf den linken) verstärkt, da so der Energiefluß geschlossen wird.

Bei der Verneigung nach der Meditation erfolgt das Auf-den-Boden-Legen der Hände, aus dem beim Setzen bereits erklärten Grund, gleichfalls in der Reihenfolge links – rechts, beim Aufrichten umgekehrt. Dadurch wird erreicht, daß die rechte Hand so lange wie nur irgend möglich an der Hüfte bleibt, um im Falle eines Angriffs den dort befindlichen Dolch (Tanto) schnell ergreifen zu können.

Ein letzter Punkt der wichtigen Etikette ist auch das Angrüßen von Trainer und höher graduierten Schülern, als Ausdruck der Achtung diesen gegenüber.

Budo selbst ist der Oberbegriff für alle Kampfkünste. Dieses Wort setzt sich aus den Zeichen Bu – für Kampf, Krieg und Do – für Weg zusammen. Diese beiden Zeichen zusammen gelesen, ergeben nun das Wort Budo, was soviel wie der Weg des Kampfes heißt. Dies bedeutet nun jedoch nicht, daß der Karateka den Weg des Kampfes beschreitet, sondern vielmehr, daß er für das Aufhören des Kampfes eintreten soll.

In letzter Konsequenz würde dies bedeuten: Ein jeder, der die Kampfkünste aus einem anderen Grunde erlernt, begeht damit einen Verrat an der Tradition und verdient es nicht, den Namen Karateka genannt zu werden.

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