Der Obi
Immer wieder hört man, daß der Gürtel (Obi) in den Kampfkünsten nie gewaschen wird. Wißt ihr auch warum?
In alten Zeiten gab es zunächst noch kein Graduierungssystem im heutigen Sinne. Alle trugen Gürtel, da die Hosen ja auch irgendwie hochgehalten werden mußten, damit sie nicht ständig herunterrutschten. So gehörte der Gürtel (ein langes Tuch oder eine Schärpe) ebenso zur Kleidung, wie das Hemd. Auch im Training wurden Gürtel getragen, die am Anfang weiß waren, aber durch jahrelanges Training mit der Zeit dunkler wurden. Einen wahren Meister der Kampfkünste konnte man nicht an seinem Gürtel erkennen, sondern an seinen Taten.
Schon damals wurde der Gürtel nie gewaschen. Aber welchen Grund gibt es dafür?
Ich werde versuchen, dies vorab an einem Beispiel zu verdeutlichen. Jeder hatte schon einmal ein Paar alte Schuhe, die er besonders gern anzog obwohl sie schon da und dort kaputt waren. Man zieht sie aber trotzdem an, weil sie so bequem sind oder weil man mit diesen Schuhen ein Erlebnis besonderer Art verbindet. Der Besitzer weiß genau: Jene Schramme ist bei dem und dem Sturz entstanden, der gerissene und wieder zusammengeknotete Schnürsenkel erinnert an ein schönes Spiel, die stark abgelaufene Sohle rührt daher, daß man an einer tollen Bergwanderung teilgenommen hat … So erzählt auch ein jeder Schuh seine eigene Geschichte.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gürtel in den Kampfkünsten.
Jeder Tropfen Schweiß und jeder Abrieb sammelt in ihm eine Erfahrung, die den Übungsweg eines Karateka kennzeichnet. Wäscht man den Gürtel, wäscht man auch in gewisser Weise die Erfahrungen weg. (Ganz so, als wenn man sich ein neues Paar Schuhe kauft und die alten dafür wegwirft.) Jeder Gürtel erzählt seine eigene Geschichte, ebenso wie jeder Karategi: von Freude und Leid, von Erfolg und Mißerfolg, von Versagen und Schmerzen – eben von allen persönlichen Höhen und Tiefen. Der Gürtel ist das Abbild des Weges, den der einzelne geht.
Jeder Gürtel ist auf besondere Weise mit dem Menschen, der ihn trägt, verbunden. Er wird zu einem wertvollen Objekt, wenn der Mensch sich selbst und seine Kunst in Ehren hält. Gleichzeitig jedoch verliert er seinen Wert, wenn der Übende die Regeln des Karate-Do verletzt.
Eine der höchsten Auszeichnungen im Budo, die ein Schüler erhalten kann, ist die, daß der Lehrer seinen Gürtel an den Schüler weitergibt.