Übungsregeln

Bevor ich auf die technischen Aspekte des Karate eingehe, möchte ich dem Leser gern einige allgemeine Hinweise geben, wie man an die Übung herangehen sollte und einige Aussagen über die Einstellung treffen, die man zum Karatetraining haben sollte.

Erstens, da Karate eine Kampfkunst ist, mußt du sie von Anfang an mit größter Ernsthaftigkeit ausüben. Das bedeutet über bloßes fleißiges und engagiertes Trainieren hinauszugehen. Bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung deiner Hand, mußt dir vorstellen, daß dir ein Gegner mit einem gezogenem Schwert gegenübersteht. In jeden einzelnen Faustschlag mußt du die Kraft deines ganzen Körpers legen, du mußt das Gefühl haben, deinen Gegner mit einem einzigen Schlag vernichten zu können. Du mußt dir vor Augen führen, daß, falls dein Schlag sein Ziel verfehlt sollte, du dein eigenes Leben verwirkt hast. So denkend, werden Kraft und Verstand konzentriert sein und dein Kampfgeist entsteht von selbst. Ganz gleich wie lange du dich dem Training widmest, ganz gleich wie viele Monate und Jahre vergehen, wenn deine Übung aus nichts anderem besteht, als aus dem Bewegen deiner Arme und Beine, könntest du ebensogut Tanz studieren. Du wirst niemals so weit kommen, die wahre Bedeutung des Karate zu begreifen.

Du wirst im Laufe der Zeit bemerken, daß ein Training mit einer todernsten Einstellung nicht nur für dein Studium des Karate von Vorteil sein wird, sondern auch für viele andere Bereiche des Lebens. Das Leben selbst ähnelt oft einem Wettkampf mit echten Schwertern. Was erhoffst du mit einer gleichgültigen Einstellung zum Leben – wie zum Beispiel der Annahme, daß dir nach jedem Fehler eine zweite Chance gegeben wird – in der kurzen Lebensspanne von nur fünfzig Jahren zu erreichen?

Zweitens, versuche alles genau so auszuführen, wie man es dich gelehrt hat, ohne zu klagen oder dich an Kleinigkeiten hochzuziehen. Nur jene, die faul und mit sich selbst unzufrieden sind, nehmen zu Spitzfindigkeiten Zuflucht. Oft sind ihre lächerlichen Beschwerden schon fast rührend. Beim Lehren der Rückwärtsstellung beispielsweise kommen Leute zu mir, die sagen, daß sie die Stellung einfach nicht lernen könnten, ganz gleich wie sehr sie sich auch bemühten. Sie fragen mich, was sie tun sollen – das nachdem sie noch nicht einmal eine Stunde geübt haben! Selbst wenn jemand die Rückwärtsstellung voller Eifer täglich übt, so lange steht, bis seine Beine so hart wie Stein sind, würde er dennoch sechs Monate bis zu einem Jahr benötigen, um sie zu erlernen.

Es ist einfach lächerlich einzuwenden, „Ganz gleich wie sehr ich mich auch bemühe,“ ohne auch nur ein bißchen ins Schwitzen gekommen zu sein. Würde ein Zen-Mönch etwas derartiges vernehmen, würde er den Mann wahrscheinlich anschreien und ausschimpfen und ihm zuguterletzt eine Kostprobe seines Stockes geben.

Du kannst nicht mit Worten üben. Du mußt durch deinen Körper lernen. Während du im Bestreben dich selbst zu schulen und zu vervollkommnen Schmerzen und Qualen erduldest, solltest du dir stets vor Augen halten: Wenn andere dazu in der Lage sind, kannst du es auch. Frage dich selbst: „Was hält mich auf? Was mache ich falsch? Fehlt irgendetwas bei meinem Herangehen?“ Das heißt Ausbildung in den Kampfkünsten.

Wichtige Punkte, die uns von anderen gelehrt werden, geraten schnell in Vergessenheit, aber die Essenz durch persönliche Mühen und Leiden erworbener Erkenntnisse werden nie vergessen werden. Ich glaube, daß dies der Grund ist, warum die alten Kampfkunstmeister nur bereit waren jenen Schülern ein Diplom zu verleihen und auch die letzten Geheimnisse ihrer Kunst zu enthüllen, deren Training fast unerträglich hart und streng war, und sie so unmittelbar den Sinn des Budo erfahren ließ.

Drittens, wenn du eine neue Technik erlernst, übe sie ernsthaft, bis du sie wirklich verstanden hast. Versuche nicht, alles auf einmal zu begreifen. Übe sorgfältig. Karate beinhaltet viele Techniken und Kata. Verfalle nicht dem Irrtum zu glauben, daß du, weil es so viel zu lernen gibt, alles schnell auf die gleiche Art und Weise erlernen solltest. Ja für eine im Karate unbewanderte Person wäre es sogar gänzlich unmöglich, ohne die Bedeutung der Kata oder der in ihnen enthaltenen Techniken zu kennen, alles im Gedächtnis zu behalten. Für sie wäre die Kata nichts weiter als ein zusammenhangloses Durcheinander von Techniken. Wenn man jede Bewegung und jede Technik unabhängig voneinander erlernt, könnte das Verständnis dafür ausbleiben, wie die eine Kata mit der anderen Kata zusammenhängt und wie die Kata selbst Bewegungen und Techniken zusammenfassen. Während man das eine lernt, vergißt man schon wieder das andere, die letztliche Belohnung wäre völlige Verwirrung.

Ein Schüler, der auch nur in einer einzigen Technik gut bewandert ist, wird naturgemäß entsprechende Punkte in anderen Techniken sehen. Ein Jodan Fauststoß, ein Gedan Fauststoß, ein gerader Fauststoß und ein entgegengesetzter Fauststoß sind im Wesentlichen gleich. Wenn man die paarunddreißig Kata überblickt, sollte man in der Lage sein zu verstehen, daß sie eigentlich nichts weiter als die Variationen einer Handvoll Kata sind. Wenn du eine einzige Technik richtig verstanden hast, brauchst du nur noch die Ausführung einer Technik beobachten und ihre wesentlichen Punkte gesagt bekommen. Du wirst sie in relativ kurzer Zeit verstehen können.

Man erzählt sich folgende Geschichte über einen bestimmten Gidayu Meister. Als er noch Schüler war, und sich bemühte jene langen Erzählgeschichten singen zu lernen, hatte er einen äußerst strengen Lehrer, der ihm jahrelang nur eine bestimmte Passage aus dem Taikoki, ein Drama über das Leben und Zeit von Toyotomi Hideyoshi, lehrte, und sich weigerte ihm irgendetwas anderes lehren. Hunderte Male am Tag, tagaus tagein, mußte der Schüler immer wieder denselben Auszug anstimmen, und jedesmal war seines Lehrers einzige Bemerkung dazu, „Nicht richtig.“ Er erlaubte ihm nicht, mit der nächsten Passage zu beginnen.

Schließlich gelangte der verbitterte Schüler zu der Überzeugung, daß er für diesen Beruf nicht geeignet war und lief mitten in der Nacht davon, um sein Glück in Edo, der Hauptstadt des Shogun’s, mit etwas zu versuchen, das ihm mehr liegt. Unterwegs, wollte es der Zufall, daß er für die Nacht in ein Gasthaus in der Provinz Suruga (jetzt Präfektur Shizuoka) einkehrte, in dem sich eine Gruppe von Gidayu-Begeisterten für einen Amateur-Wettstreit versammelt hatte. Immer noch tief in der Kunst gefangen, die er so lange Zeit geübt hatte, konnte er dem Drang nicht widerstehen, sich an dem Wettstreit zu beteiligen. Obwohl er ein Außenstehender war, ging er auf die Bühne und rezitierte aus ganzem Herzen die einzige, ihm so gut gekannte Stelle. Als er endete, kam der alte Mann auf ihn zu, der den Wettbewerb ausgerichtet hatte. „Du meine Güte, das war wirklich großartig,“ rief der Alte aus. „Ich würde gern Euren richtigen Namen erfahren. Wenn mich meine Augen und Ohren nicht täuschen, mußt Ihr ein berühmter Meister sein.“

Dem ehemaligen Schüler verschlug es ob soviel schmeichelhaften Lobes glatt die Sprache. Er kratzte sich am Kopf, und platzte dann heraus; „Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als das. Ich bin doch ein offenkundiger Anfänger. Ich muß gestehen, daß ich nicht einmal die Passagen vor oder nach der Textstelle kenne, die ich gerade rezitiert habe.“

Der alte Mann war außerordentlich überrascht. „Ist das wahr? Aber Euer Können ist dem der Bunraku Meister vergleichbar. Wer auf Erden war Euer Lehrer?“

Der Schüler erzählte nun über die Strenge seiner Ausbildung und wie er letztendlich aufgegebenen hatte und davongelaufen war.

Mit einem Seufzer sagte der alte Mann, „Da hast du einen schrecklichen Fehler begangen. Nur weil du das Glück hattest, unter so einem strengen Lehrer lernen zu dürfen, war es dir vergönnt, so viel in nur wenigen Jahren zu lernen. Folge meinem Rat: Kehre sofort zu deinem Lehrer zurück, bitte ihn um Verzeihung, und nimm dein Studium wieder auf.“

Die Worte des alten Mannes vernehmend, bemerkte der Schüler unversehens seinen Fehler und ging zu seinem Lehrer zurück. Schließlich wurde er ein Meister seiner Kunst. Ich denke diese Geschichte handelt von keinem anderen als von Meister Koshiji, aber wer auch immer es war, sie wirft eine ganze Menge Punkte auf, über die man einmal nachdenken sollte.

Viertens, gib nicht vor, ein großer Meister zu sein und versuche nicht dein Können nach außen hin zu zeigen. Es ist albern, daß viele derjenigen, die die Kampfkünste ausüben, der Meinung sind, sie müßten damit protzen, Kampfkünstler zu sein. Stelle dir einen Mann vor, mit hochgezogenen Schultern, die Ellbogen herumschwingend, wie er die Straße herunterstolziert als ob sie ihm allein gehöre, mit einem Gesichtsausdruck, der sagt, „Ich bin der größte Held der je lebte.“ Selbst wenn er das wäre, jemandes Achtung für ihn würde mindestens um die Hälfte sinken. Und wenn er andererseits kein Mann von großen Fähigkeiten wäre, sondern nur ein Held in seiner Einbildung, die Lage wäre zu lächerlich, um sie in Worte zu fassen.

Aufzuschneiden oder anzugeben ist das für gewöhnlich auffälligste an Neulingen. Indem sie auf diese Weise handeln, schädigen sie das Ansehen derjenigen, die die Kampfkünste seriös ausüben. Dann gibt es noch jene, mit oberflächlichen Kenntnissen von ein oder zwei Karate Techniken, die ihre Fäuste immer so halten, daß andere auf ihre verhärteten Fingerknöchel aufmerksam werden müssen, während sie sich ihren Weg durch das Gedränge bahnen, als ob sie sich mit Worten nach einem Kampfversessenen umsähen.

Aus: Karate-do Nyumon von Funakoshi Gichin
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