Man darf im Karate nicht als erster zuschlagen!
Ich bin nicht stark wenn ich anderen meine Macht beweise, indem ich sie zusammenschlage, nachdem sie mich angegriffen haben. Ein wahre Kämpfer weiß, wann es genug ist. Niemals darf man unbeherrscht sein. Jemanden nach einem Angriff immer soweit zusammenzuschlagen, bis er regungslos am Boden liegt, dass beweist aus meiner Sicht schon einen Mangel an Moral.
Man muss nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, man muss sich nicht angreifen lassen und man muss sich auch nicht verstecken. Immer nur die erforderliche Verteidigung anwenden! (vgl. auch das Notwehrrecht – wer die Grenzen der Notwehr überschreitet, macht sich nämlich selbst strafbar)
Im Übrigen – immer wieder hört und liest man, dass man als Karateka – oder Kampfsportler – nicht zuerst angreifen dürfe. Das ist im Grundsatz auch richtig. Im Karate wird es ja immer so begründet, dass jede Kata mit einer Verteidigungstechnik beginne. Dies ist auch vom Anfänger-Niveau aus betrachtet richtig, aber später gibt es keine Abwehrtechniken mehr. Jede Abwehrtechnik wird richtig ausgeführt zu einer Angriffstechnik.
Als geübter Kämpfer lerne ich den Angriff des Gegners frühzeitig zu erkennen. Damit bin ich in der Lage, seinen Angriff bereits im Ansatz zu zerstören und seine Kraft gegen ihn selbst zu lenken. Ich brauche nicht zu warten, bis der Angreifer das erste Mal zugeschlagen hat und ich seinen Angriff abgewehrt habe, um darauf selbst zu kontern… „Karate ni sente nashi“ heißt besser übersetzt „Es gibt keine erste Bewegung im Karate“, was diesem Denkansatz auch voll entspricht. Ich warte die erste Bewegung des Angreifers ab, warte aber nicht, bis er sie vollendet hat.
Der lange Weg ist der schwierige, aber gleichwohl der effektivere. Gute Techniken erfordern eine lange Zeit.
Ein Angriff ist nicht erst dann gegeben, wenn der andere zugeschlagen hat, sondern wenn der Angriff unmittelbar bevorsteht, er also beispielsweise ausholt. (vgl. auch Notwehrrecht)
Im Karate gibt es auch einen sehr bekannten Ausspruch, der leider immer wieder falsch wiedergegeben wird: „Karate ni sente nashi“ = Es gibt keine erste Bewegung im Karate.
D.h. also logisch weiter gedacht: Wenn der Angreifer seine erste Angriffsbewegung macht, darf ich reagieren = Angriff ist die beste Verteidigung. Ich muss nicht warten, bis der andere seine Chancen ausgenutzt hat…
Im übrigen: Bevor ich – weil ich sonst keine Chance habe – zuerst zuschlage, wäre es nicht besser entweder gleich die Beine in die Hand zu nehmen und davonzulaufen oder soll ich mich prügeln, um mir und den anderen etwas zu beweisen? Außerdem ist es mit einem vielleicht ein wenig gekänktem Ego weiterzuleben als schwer verletzt im Krankhaus oder gar tot auf dem Friedhof zu landen…
Wenn man in einer brenzligen Situation ist, steht man an einem Scheideweg. Hier zeigt sich, wer in der Lage ist, mit schwierigen Situationen fertig zu werden.
Wer sich für die Gewalt entscheidet kommt nicht allzuweit. Wer sich für den „sanften“ Weg entscheidet lebt mit Sicherheit länger und ruhiger. Ich erinnere nur an eines: „Jeder der Schwert greift, wird auch durch das Schwert umkommen…“ (steht in der Bibel, glaube ich) und „Ein toter Krieger ist kein guter Krieger“ (müsste wohl eine alte japanische Weisheit sein).
Ich bin in meinem bisherigen Leben noch nie in die Situation gekommen, mich mit anderen ernsthaft schlagen zu müssen, auch verspüre ich keinerlei Bedürfnis hiernach.
Zur Verteidigung schlage ich als erster zu!
Die anderen sind böse, ich bin es nicht! Wenn ich nur zu meiner Verteidigung als erster zuschlage, heißt das nichts anderes, als dass ich mit der physischen Gewalt anfange. Auch der Versuch diese physische Gewalt dadurch zu rechtfertigen, dass ich mich (oder andere) selbst schützen wollte mag nicht über die Tatsache hinweghelfen, dass ich derjenige war, der die Schlägerei angefangen hat.
Im Übrigen: Wenn man nicht gut genug ist, einen Schlag im Ansatz zu erkennen und abzuwehren, muss man halt mehr, intensiver und härter trainieren, damit man dazu in der Lage ist. Und so lange man das nicht kann (manche werden es auch aus physischen oder psychischen Gründen niemals schaffen), sollte man sich für den sicheren Weg entscheiden und der besteht niemals darin, zuzuschlagen und schon gar nicht als erster zuzuschlagen nach dem Motto „Vorbeugen ist besser als Heilen“.
Mehr noch: Wenn ich einen guten Kämpfer vor mir habe und als erster zuschlage – vielleicht hat der ja gerade darauf gewartet, um sich dann mit dem „für die Abwehr des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs notwendigen Mittel“ meiner zu erwehren?
Wie sehen denn die möglichen Situationen aus?
Wenn derjenige, den ich als erster schlagen will, um nicht angegriffen zu werden, ein guter Kämpfer ist, werde ich ungeachtet meines ersten Schlages unterliegen, weil er in der Lage ist, meinen Angriff zu erkennen, diesem zu entgehen und seinerseits gezielt zu kontern. Fazit: Keine Chance für mich! Ich verliere den Kampf, vielleicht die Gesundheit und an einen Gerichtsprozess brauche ich als Angreifer gar nicht erst zu denken.
Wenn derjenige, den ich als erster schlagen will, um nicht angegriffen zu werden, kein guter Kämpfer ist, hätte ich seinen Angriff ebensogut abwarten und auskontern können. Fazit: Mein erster Schlag war fehl am Platze! Ich gewinnst zwar den Kampf aber mit Sicherheit nicht den Prozess.
Wenn derjenige, den ich als erster schlagen will, um nicht angegriffen zu werden, ein ebenso guter Kämpfer ist wie ich, stehen die Chancen gleich. Fazit: Mein erster Schlag war vielleicht meine Rettung in der Schlägerei – aber nicht vor dem Gericht!
Fassen wir zusammen:
1. Vor Gericht habe ich als erster Zuschlagender nie eine Chance und werde immer unterliegen.
2. Meine Chancen als Sieger aus der Sache hervorzugehen stehen 50:50.
3. Meine Chancen unverletzt aus der Situation rauszukommen liegen deutlich unter 50 Prozent.
Alles zusammen ergibt eine aus meiner Sicht mehr als negative Bilanz. Bei so schlechten Aktien würde wohl ein Börsenmakler nur kaufen, wenn eine deutliche Aussicht auf Besserung besteht – aber die wird wohl nie kommen. Also lässt er die Finger vom Kauf der Aktie. Auf die beschriebene Situation umgemünzt hieße das – Finger weg! Suche Dir besser etwas anderes.
Die Gesundheit ist ein hohes Gut, die man wahrscheinlich gar nicht recht zu schätzen weiß, weil man noch nie im Leben über einen längeren Zeitraum krank gewesen bist. Fragt doch einmal Leute, die ihr ganzes Leben immer aktiv gewesen sind und nun das Bett hüten müssen, weil sie durch einen Unfall oder Krankheit nicht mehr in der Lage sind zu gehen… Der Beispiele könnte man sicherlich noch viele aufzählen – aber es soll genügen.
Fest steht folgendes:
1. Gewalt hat noch nie zur Lösung von irgendwelchen Konflikten beigetragen (auch wenn das von Politikern immer wieder gern behauptet wird). Die Geschichte hat überdeutlich gezeigt, dass Gewalt nur immer temporär eine Beruhigung eines Konflikts gebracht hat, ihn aber niemals lösen konnte.
2. Die Gefahr für die eigene Gesundheit in einer Schlägerei ist zu groß als dass man sich dieser unbedacht aussetzen sollte. (Du schreibst ja selbst über die Gefahr eines Schlages auf den Kehlkopf – wobei dieser ja aus pathologischen Gründen eh erst bei Personen ab etwa 30 Jahren tödlich sein kann.)
3. Gewalt vermeiden oder dieser auszuweichen (gleich auf welche Weise) ist so lange vorzuziehen, wie es möglich ist. Die Gewalt ist immer nur als Ultima Ratio zu verstehen, als allerletzter Ausweg, wenn es nichts anderes mehr gibt.
Und im Übrigen was das Weglaufen anbetrifft: Wer seinem Gegner den Rücken zukehrt braucht sich nicht zu wundern, wenn er einen Tritt in seinen Allerwertesten bekommt – das ist doch glasklar… oder? Wenn ich mich aus einer Gefahrensituation entferne indem ich mich umdrehe, wird die Gefahr doch noch größer als sie ohnehin schon war! Das wäre genau das gleiche wie das kleine Kind, das glaubt, weil selbst mit geschlossenen Augen nichts sehen kann, dass es auch alle anderen nun nicht mehr sehen könnten. Wenn Du Dich umdrehst um wegzulaufen und die Entfernung nicht sicher ist, dann könntest Du genausogut im Moment des Angriffs einen Schritt in Richtung der Faust des Angreifers tun, um dessen Schlagwirkung zu erhöhen.
Einige Schlussgedanken
Wir dürfen nicht immer nur so kurz und engstirnig denken, ausgerichtet nur auf den jetzigen Augenblick. Mag sein, dass wir für den Moment mit Gewalt ein Problemchen lösen können, aber die daraus erwachsenden Folgen – überblicken wir die auch? Mit der richtigen Grundhaltung werden wir auch immer die richtigen Entscheidungen treffen können. Der Mensch ist so konzipiert, dass er sein Wissen auch unter Höchstanforderungen blitzschnell abrufen und auch in schwierigsten Situationen die richtigen Entscheidungen treffen kann. Haben wir aber die falsche Grundhaltung werden wir immer auch die falsche Entscheidung treffen.
Bedenkt:
Wenn jeder als erster zuschlägt, nur um nicht als erster angegriffen zu werden – dann haben wir bald nur noch Schläger in unserem Land… Ist es das, was wir wollen?